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Dienstag, 2. Juni 2015

„Nichts verlernt – Die zweite Karriere ehemaliger NS-Richter und Staatsanwälte bei der 4. Strafkammer des Lüneburger Landgerichts“



VVN-BdA Lüneburg legt neue Schrift vor:
In einer neuen Veröffentlichung in ihrer Schriftenreihe widmet sich die Lüneburger VVN-BdA der Strafrechtspraxis der 4. Strafkammer des Lüneburger Landgerichts während der 1950er und 60er-Jahre. Hier strengte die Lüneburger Staatsanwaltschaft mehrere tausend politische Strafverfahren gegen (häufig vermeintliche) Mitglieder und Unterstützer der KPD an, unter ihnen viele Nazi-Verfolgte.


„Oft hatte man den Eindruck, als wenn die (Lüneburger) NS-Staatsanwälte und - Richter nachträglich an den Opfern Rache nehmen würden, weil sie als Zeugen der Verbrechen der Nazi- Justiz und der SS aus den Höllen der Gestapo und der Konzentrationslager entkommen konnten.“ (Lutz Lehmann)

Das Lüneburger Gericht verurteilte mehrere hundert Angeklagte zu nicht selten hohen Haftstrafen: Eine unvollständige Übersicht belegt für 142 Personen Haftstrafen von insgesamt 1.557 Monaten Gefängnis.

Juristisch begründet wurde der Kampf gegen den politischen Kern der damaligen Widerstandsbewegung gegen die Restaurationspolitik der Bundesregierung mit dem Strafrechtsänderungsgesetz („Blitzgesetz“) und dem FDJ- und dem KPD-Verbot, „eine Waffe, die geschmiedet wurde, um im Kalten Krieg zu bestehen“(Bundestags-Abgeordneter Horst Haasler).

Unter den in Lüneburg Verurteilten der damals 24-jährige Journalist Walter Timpe. Er hatte es gewagt, öffentlich gegen die Wiederaufrüstung Stellung zu beziehen, über die Nazivergangenheit einiger Bundesminister zu berichten und das Verbot der kommunistischen Jugendorganisation FDJ zu kritisieren. Dafür wurde er 1955 von Lüneburgs 4. Strafkammer des Landgerichts mit einem Jahr Gefängnis bestraft. Sein Ankläger war Staatsanwalt Karl-Heinz Ottersbach, der zuvor als Staatsanwalt beim Sondergericht Kattowitz gegen jüdische und polnische Angeklagte gewütet hatte.

In dem jetzt vorgelegten ersten Teil zu diesem Themenkomplex mit dem Titel „Nichts verlernt – Die zweite Karriere ehemaliger NS-Richter und Staatsanwälte bei der 4. Strafkammer des Lüneburger Landgerichts“ widmet sich die VVN-BdA ausschließlich dem prozessbeteiligten Justizpersonal. Die Autoren untersuchen dabei im Einzelnen das Nazi-Vorleben dieser Richter und Staatsanwälte als NSDAP-Mitglieder und –Funktionäre und als „NS-Täter mit dem Dolch unter der Robe“, sowie ihre relativ problemlose Wiedereinstellung in den Justizdienst.
Als „bewährte Justizbeamte“ mit ihren Erfahrungen u.a. an Kriegs- und Sondergerichten waren sie für die politischen Prozesse gegen den alten und neuen „bolschewistischen Feind“ prädestiniert und erfüllten ihre Aufgabe zur Zufriedenheit des Justizministeriums, eine Behörde, deren NS-Personalstruktur in einem gesonderten Kapitel vorgestellt wird.
Die funktionierende Kameraderie des Justizpersonals vom Landgericht bis zum Ministerium wird besonders deutlich, wo es galt, die amtierenden Richter und Staatsanwälte vor öffentlicher Kritik wegen ihrer Nazi-Taten abzuschirmen. Belastende Dokumente wurden als unglaubwürdig abgetan, überwiegend begründet mit ihrer Herkunft von den DDR(„SBZ“)-Behörden. Den Tatvorwürfen gegen das Justizpersonal wurde nicht ernsthaft nachgegangen, sondern im Gegenteil gegen die Kritiker Anzeigen erstattet mit dem Hinweis auf deren mögliche kommunistische Einstellung. Kam die Lüneburger Justizbehörde wegen des öffentlichen Drucks nicht darum herum, Verfahren gegen Bedienstete ihrer 4. Strafkammer aufzunehmen, so wurden sie allesamt niedergeschlagen unter Zuhilfenahme zahlreicher Verfahrenstricks der verschiedenen Behördenleiter bis hinauf zum Justizministerium. Dabei praktizierten die Behörden eine Art Selbstschutz: Würde auch nur in einem Fall ein Richter oder Staatsanwalt Lüneburgs 4. Strafkammer verurteilt wegen seiner NS-Mordtaten, so wäre das gesamte System der Immunisierung dieses Personenkreises vor strafrechtlicher Verfolgung zusammengebrochen. Die Justiz selber säße auf der Anklagebank. In diesem Sinne kämpften Lüneburgs Richter und Staatsanwälte auch um den Bestand ihrer eigenen Karriere, indem sie ihre schärfsten Kritiker zum Schweigen brachten.

Soviel ist im historischen Rückblick sicher: Unter demokratisch-rechtstaatlichen Gesichtspunkten hätte keiner der benannten Richter und Staatsanwälte nach 1945 wieder in seinem alten Beruf tätig werden können - schon gar nicht in politischen Verfahren. In zwei oder drei Einzelfällen bestenfalls vorübergehend als Verkehrsrichter.
Als Konsequenz ihrer Untersuchung verweisen die Autoren auf die gegenwärtige Politik: „Wir erhoffen uns mit der Vorlage dieser Schrift eine rege Diskussion. Insbesondere soll sie zu einer Neubewertung der Verfahren und Urteile beitragen, die die beschriebenen Richter und Staatsanwälte zu verantworten haben. Denn mit den Ansprüchen einer demokratischen Justiz sind sie unvereinbar. Das wirft zwingend die Frage nach rückwirkenden Konsequenzen für Justiztäter und –opfer auf! Zumindest im Sinne der Angeklagten und Verurteilten müssen die damaligen Verfahren überprüft und muss eine mögliche Rehabilitierung der Opfer angestrebt werden.“

Die Schrift ist für 3,00 Euro zu erhalten im „Laden & Cafe Avenir“ im Heinrich-Böll-Haus, Katzenstraße Lüneburg, oder für 5,00 Euro zu bestellen unter vvn-bda-lg@web.de (einschl. Versandkosten).


P. Asmussen